Im August 1999 zog ich mit Frau und zwei Kindern von Italien in die Schweiz. Bei der Elektromechanik-Industriegruppe Saia-Burgess (Kerngeschäft Motoren und Schalter) war ich als Nachwuchskraft für die Gruppenleitung eingestellt worden. Auf meinen neuen Visitenkarten prangte der Titel „Director of Business Development“. Nach sechs Monaten legte der CEO und Präsident des Verwaltungsrates, Andreas Ocskay, offen, warum er mich eingestellt hatte. Ich sollte verhindern, dass die Geschäftseinheit elektronische Steuergeräte (Saia) zum Skandalfall für die publizitätssensitive börsenkodierte Firmengruppe würde.
Hier hatte ich fast 15 Jahre meinen Schreibtisch. Der Sitz von Saia-Burgess Controls AG, Murten, CH in der zweisprachigen Westschweiz (D/F).
Um vor dem Börsengang im Jahre 1998 das volumen- und prestigeträchtige Geschäft im Automobilsektor sprunghaft entwickeln zu können, hatte die Saia-Burgess Gruppe für Elektromechanik-Produkte systematisch Angebote unter Selbstkosten gemacht. Die fehlende Marge wurde mit dem Geschäftsfeld elektronische Steuer- und Regelgeräte ausgeglichen. Dieses Geschäftsfeld wurde in den neunziger Jahre als „Cash Cow“ der Industriegruppe genutzt – es wurde das maximal Mögliche an Finanzmitteln aus dem Geschäft abgezogen und in das Automobilgeschäft gesteckt. Im Frühjahr 2000 war das Geschäftsfeld Steuer- und Regelgeräte so weit ausgelaugt, dass ein Zusammenbruch befürchtet wurde. Ich sollte das Geschäft schnell verkaufen oder sanieren. Darunter durfte die gute Profitabilität jedoch nicht leiden, Geld musste weiter in die Konzernkasse fließen. Was ich aus dieser Aufgabe machte, wird nachfolgend beschrieben.
Saia Regel-/Steuergeräte im März 2000
Saia Regel-/Steuergeräte im März 2014
2000-2014: Von ausgemergelter, schlachtreifer Cash Cow zu fetter, energiegeladener Milchkuh. Zwei PowerPoint-Folien des dienstältesten deutschen Saia Managers bei der Abschiedsfeier im März 2014
Am 19. März 2014 veranstaltete die deutsche Vertriebsgesellschaft der Saia-Burgess Controls AG eine Abschiedsfeier für mich, bei der auch Schlüsselkunden aus ganz Deutschland dabei waren. Bei dieser Abendveranstaltung stellte Bernhard Ramroth als dienstältester Mitarbeiter seine Sicht auf mein Wirken von 2000-2014 dar. Er war viele Jahre Key-Account-Manager und auch stellvertretender deutscher Verkaufsleiter.
2000-2014: Bernhard Ramroth zeigte seine Meinung anhand der beiden aussagekräftigen Folien mit den Kühen.
Die grundlegende Sanierungsphase für das Saia-Steuerungsgeschäft erstreckte sich von 2000 bis 2005. In dieser Zeit musste das Geschäft komplett neu aufgestellt werden. Personalaufbau war dabei nicht möglich, es blieb nur der Umbau der Personalressourcen. Die Sanierung und Neuausrichtung geschah mit den Mitarbeitern, die schon lange da waren. Es reichte, den Stammmitarbeitern den Rücken freizuhalten zur Umsetzung einer neuen Strategie, die von der Belegschaft verstanden und mitgetragen wurde.
Für das Geschäft mit Saia Regel- und Steuergeräten wurde die Saia-Burgess Controls AG neu gegründet. Diese Firma sollte nicht mehr opportunistisch als Cash Cow missbraucht werden. Das Profitabilitätsziel für die Saia-Burgess Controls AG sollte nicht höher sein als für die gesamte Firmengruppe. Die Quersubventionierung anderer Geschäftsbereiche musste ein Ende haben. Deshalb wurde ich Teil der Gruppenleitung der börsenkodierten Saia-Burgess.
Bild der obersten Führungsebene der Saia-Burgess Gruppe aus dem Geschäftsbericht 2003. J. Lauber in der Mitte.
Im Jahr 2005 kam es zu einem ungewollten Eigentümerwechsel. Nach einem intensiven halben Jahr der Übernahmeschlacht wurde die Saia-Burgess Gruppe von einem weißen Ritter, der hongkong-chinesischen Johnson Electric Gruppe übernommen und von der Züricher Börse genommen. In diese Firmengruppe, die DC-Kleinmotoren fertigt, passte die Saia-Burgess Controls mit Elektronik und Software-Produkten nicht. Die Saia-Burgess Controls wurde ab 2006 vom neuen Eigentümer als reine Finanzbeteiligung geführt. Ich berichtete direkt an die chinesische Eigentümerfamilie. Diesen Kontakt habe ich intensiv gepflegt. Dadurch erhielt ich die Möglichkeit, nach der grundlegenden Sanierungsphase 2000-2005 das Saia Elektronikgeschäft weiter zu entwickeln. Die neuen Eigentümer erlaubten mir, in Maschinen und Anlagen zu investieren und Personal aufzubauen. Wachstum im Umsatz und eine gute zweistellige Profitabilität waren dafür die Grundlage. Der hongkong-chinesische Eigentümer verzichtete auf eine Profitmaximierung zugunsten von Substanzaufbau in Form von stärkerer Kundenbasis und erweitertem Produktportfolio.
Ehrung beim Abschied Ende März 2014 mit der Eigentümerfamilie von Johnson Electric
Gemütliches Abschiedsessen mit den Finanzverantwortlichen und der Konzernleitung von Johnson Electric
Das sollte sich als gute Investition erweisen. Der Verkaufspreis für die Saia-Burgess Controls an die Honeywell Anfang 2013 war sehr lukrativ. Nach meinem Ausscheiden aus Saia-Burgess im März 2014 lud mich der Alteigentümer Johnson Electric als persönliches Dankeschön zu einer Abschiedsreise nach Hongkong und China ein.
Auszug aus einem persönlichen Empfehlungsschreiben von Chris Hasson, dem ehemaligen Chef der Johnson Electric Capital-Beteiligungsgesellschaft:
„ As the Managing Director of Saia Burgess Controls, Juergen performed exceptionally well in leading and developing the business unit through a challenging external operating environment that included the Global Economic Crisis in 2008-09. In addition to achieving significant improvements in sales and profits during his leadership tenure, the business successfully implemented a wide range of operational and business improvements that included numerous Gemba Kaizen/Lean manufacturing initiatives …“
Chris Hasson, Hong Kong, 18.Februar 2013
Saia war in der Nachkriegszeit mit Treppenhauschaltern sehr erfolgreich geworden. Diesen Nukleus an Elektronikkompetenz nutzten in den achtziger Jahren findige Betriebsmittelbauer der Saia AG, um Steuerungselektronik für ihre Maschinen und Prozesse ( z. B. Galvanik) selbst zu bauen. Damit wurden Saia Schalter und Saia Motoren hergestellt. Die „Saia“ wurde so eher zufällig zu einem der ersten Hersteller für speicherprogrammierbare Steuerungen (SPS). Bis Anfang der 90er Jahren war Saia mit Siemens führend in Technik und Qualität. Ende der neunziger Jahre, nach vielen Jahren der rücksichtlosen Nutzung als Cash Cow, war von der einstmalig führenden Rolle nichts mehr übrig. Die Produkte waren veraltet, Anpassungen an neue Anforderungen wie digitale Bustechnik wurden in Form von Basteleien notdürftig implementiert. Der gute Markenname Saia wurde durch das Brandlabeln von asiatischen Billigprodukten verramscht. Die bestehenden Kunden waren durch Handelsprodukte wie italienische Antriebstechnik und Touchpanels zunehmend verärgert. Aus Verzweiflung wurde den Saia SPS Steuerungen wackelige PC Boards zum „hochpowern“ eingepflanzt. Das PC-basierte Programmierwerkzeug für die elektronischen Controller gab es nur auf MS DOS. Doch MS DOS war abgekündigt und wurde nicht mehr geliefert. Es drohte der Super-GAU bei Kunden mit neuen Windows Rechnern und einem Lieferanten Saia, der kein Windows Softwaretool zur Progammierung hatte.
Erneuerung der Kernprodukte: Kaizen-Beispiel für Stärke der Veränderung in vielen kleinen Schritten
So sah der Saia Katalog für 2001 aus. Eine Mischung aus völlig veralteten Eigenprodukten und Flickschusterei mit billigen Brandlabel-Produkten. (Video-Link: Blick in den Katalog)
Ende der neunziger Jahre die Verramschung der guten Marke „Saia“ durch Brandlabeling von Billigprodukten. So sieht die Cash-Cow-Produktpalette aus, wenn die eigenen Produkte nichts mehr hergeben. Dann wird für viel Geld nur noch billigste Technik geliefert. Rechts: Die neue Saia PCD 1 Elektroline Produktreihe von Saia-Burgess Controls AG passt zu einem Schweizer Hersteller. Das ist die Alternative zum Labeling von Billigprodukten.
Links: Bastellösung für einen Busanschluss Saia PCD 2 in 2001 – so fühlen sich Produkte einer Cash Cow kurz vor dem Ableben an. Rechts: So sieht die neueste Saia PCD 2 Baureihe aus. Bis zu 8 Schnittstellen, LCD Display und Ethernet Switch integriert. (Video-Link: PCD 2, Alt vs. Neu)
Erweiterung Produktpalette: Touch Panel + Energiezähler
Eine bewegte Geschichte von Saia als Produkt und als Unternehmen. Sie endet nun als Teil von Honeywell. Dort werden frische, vitale Cash Cows gekauft und dann profitoptimal verwertet.
Im Jahre 2001 gab es noch keine Saia Energiezähler und keine Saia Touchpanels. Diese wurden ab 2006 zum wesentlichen Wachstumstreiber.
Zwei Versionen von busfähigen Saia Energiezählern
Technik, Support und Vertrieb wurden nach 2002 auf Automation von Infrastruktureinrichtungen ausgerichtet. Dort waren noch keine Wettbewerber glaubhaft profiliert. Es war eine Lücke im Markt der Anbieter.
Das „Saia Welt“-Bild: Technologien, Produktpalette und Anwendungsfelder.
Links: In großen Veranstaltungen wurden Beziehungen direkt mit wichtigen Planern und Bauherren aufgebaut. Mitte, Rechts: Mit der Integration von Web + IT-Technologie in industrielle Controller wurde Saia in wenigen Jahren führend und konnte sich neue Märkte erschließen. Konzepte aus Lean wurde in der Automationswelt umgesetzt.
Die gesamte Produktion von Elektronik wurde ab 2005 in Murten/Schweiz bei der Saia-Burgess Controls AG konzentriert. Vorangegangene Verlagerungen in osteuropäische Niedriglohnländer wurden rückgängig gemacht. Die Komplexität der Fertigung wurde verringert und der Einsatz von EDV in der Produktion wurde reduziert. Dann wurde ab 2007 die Produktion und Logistik konsequent auf ein japanisches Lean-Modell umgebaut. Neben Wochenkursen in Japan wurden periodisch die japanischen Meister samt Dolmetscher zu Workshops eingeflogen.
Der japanische Kaizen-Meister Moro San beim Wirken.
Links: Elektronikfertigung vorher – konventionelle Fließfertigung, EDV steuert jeden Schritt Rechts: Elektronikfertigung nachher – Zellenfertigung – alle Produktionsschritte zusammen und One Piece Flow
Links: Der Geschäftsführer eines Wettbewerbers als Arbeiter in der Produktionszelle für Saia Energiezähler. Rechts: Begeistertes Feedback des Geschäftsführers eines Wettbewerbers nach Werkbesuch und Arbeitseinsatz bei Saia-Burgess Controls im Lean-Werk Murten
Der dritte große Innovationsschritt war die Entwicklung eigener Fertigungskapazität in China und der gleichzeitige Aufbau einer lokalen Kundenbasis. Damit sollte das Währungsrisiko Dollar zu Schweizer Franken ausgeglichen werden. Bei einer weiteren Wertsteigerung des CHF gegenüber dem Euro konnte einfach mehr Vorproduktion von arbeitsintensiven Halbfabrikaten von der Schweiz nach China verlegt werden. Die verkaufsfähigen Produkte für Europa kamen dennoch immer aus dem Schweizer Werk in Murten.
China Produktion
Eine chinesische Arbeiterin bei der Fertigung von Saia Energiezählern. Die Testmittel und Fertigungsverfahren kamen alle vom Werk Murten (CH). (Video-Link: Eine chinesische Arbeiterin bei der Fertigung)
März 2014. Abschiedsessen in Shenzhen, mit dem verbleibenden Teil der Saia-Burgess Controls China. Honeywell als neuer Besitzer seit Februar 2013 hatte kräftig abgebaut.
Das Ende für meine Zeit bei Saia-Burgess wurde im Februar 2013 eingeläutet, gleich nach der – aus der Sicht von Kunden, Mitarbeitern und mir – feindlichen Übernahme durch Honeywell. Am ersten Tag, dem 4.2.2013, kam Honeywell mit fünf Vollzeit-Integrationsmanagern und einem altgedienten Honeywell-Mann als neuem Geschäftsführer in Haus. Nach 13 Jahren war ich die Verantwortung von heute auf morgen los – für mich ein Schock und ein traumatisches Erlebnis. Es lagen noch 12 Monate Vertragslaufzeit vor mir. Ich erklärte mich bereit, noch bis März 2014 zum Erfolg der Saia-Burgess Controls als Teil von Honeywell beizutragen. Diese Zeit lief für alle Seiten sehr positiv ab, besonders für Mitarbeiter und Kunden. Der neue Honeywell-Geschäftsführer gab mir nach einem Jahr einen schönen Abschlussbrief mit auf den weiteren Weg.
Die neue Ära zeigt sich zuerst am Firmenschild. Übernahmeopfer mit Alt- und Neueigentümer auf einem Schild vereint. In einem Jahr mussten noch die IT-Systeme getrennt und SAP an den Start gebracht werden.
„… das fortgesetzt positiv wirkende Engagement von Herrn Lauber hat geholfen, mit der bestehenden Kundenbasis in 2013 einen fast zweistelligen Prozentsatz an Wachstum zu erzielen. Das letzte Budget (2013) von Herrn Lauber für die Saia-Burgess Controls AG wurde übertroffen. Aktuell ist das Unternehmen schon 10% über Vorjahr. Herr Lauber hat auch in den letzten 12 Monaten alle ihm gesteckten Ziele vollumfänglich erreicht. Er hat sich die ganze Zeit tadellos und vorbildlich verhalten …“
Ernst Malcherek 20.3.2014 Managing Director
Das Logo Saia-Burgess prangte auf allen Produkten, Unterlagen und Webseiten der Saia-Burgess Controls AG. Es befindet sich auch auf Motoren und Schaltern von Johnson Electric. Die Markennamen waren bei Johnson Electric als Intangible Asset noch hoch in den Büchern bewertet. Deshalb wollte Johnson Electric die Markennamen Saia und Saia-Burgesss nicht hergeben.
Im Kaufpreis von 130 Millionen $, den Honeywell für Saia-Burgess Controls bezahlte, waren diese Markennamen nicht enthalten. Das erworbene Anlagevermögen lag im Wert bei 6 Millionen $. Die Honeywell zahlte viel „Good Will“ und musste bis März 2014 alle Saia-Burgess Logos von allen Unterlagen und Produkten entfernen – ein immenser und kostspieliger Kraftakt. Mit meinem Ausscheiden im März 2014 verschwand zeitgleich das Logo, welches für die Phasen der Rettung und Revitalisierung einer ausgemergelten, todkranken Cash Cow stand. Nun kann Honeywell ans Melken gehen. Es bleibt zu hoffen, dass sie nicht an Futter und Haltung sparen, sonst bleibt von der Cash Cow nur Material für Suppen und Gelatine.
Die frische, vitale Milchkuh Saia lebt nun auf einem neuen Hof und heißt schnöde SBC. Das positive Kaizen-Beispiel Saia findet sein Ende. Jetzt wird in US Stil radikal umgekrempelt, zerlegt und verlagert.
Die Mitarbeiter in Murten gestalteten eine sehr schöne Abschiedsfeier für mich und schenkten mir eine Karte, die Bände spricht. Sie bezog sich auf mein geplantes Sabbatical-Jahr. Als Publizist wollte ich etwas gegen das staatlich verordnete deutsche BauUnwesen unternehmen, um damit etwas für das Gemeinwohl in meiner alten Heimat Deutschland zu tun. Nachdem ich 25 Arbeitsjahre lang immer nur auf meinen Eigennutz und den meines Unternehmens fokussiert gewesen war, wollte ich mal etwas ganz Neues machen. Das sollte mir erlauben, auch emotionalen Abstand von der „Saia-Zeit“ zu gewinnen. Damit kann ich mich für weitere Unternehmens-Kaizen-Beispiele bereit machen.
In meinem Sabbatical entwickelte sich etwas Neues und Großartiges für mich. So entpuppte sich die feindliche Übernahme durch Honeywell als Glücksfall für mich.